Kapitelauszug: "Rachekuss", Arena-Verlag, erscheint im August 2011
Das Schlimmste war, dass ihr niemand glaubte. Nicht einmal Carina, die ihr als Einzige in den letzten acht Wochen, den schrecklichsten ihres bisherigen Lebens, immer zur Seite gestanden hatte. Sogar Carina wich vor ihr zurück. Flora konnte es ihr nicht verdenken. Wer traute sich schon in die Nähe einer Mörderin? Denn das war es, was die Menschen nun in ihr sahen: Eine Mörderin. Zuerst hatte man sie Spinnerin genannt, Lügnerin, Tierquälerin, Psychopathin und jetzt … Das Bild vor ihr verschwamm. Alles, was sie sah, war schwarz. Ein schwarzer Tunnel, in den sie unaufhaltsam hineingezogen wurde und der keinen Ausgang, kein Ende hatte. 'Ich bin nicht mehr ich selbst', dachte Flora. 'Es ist nichts mehr von mir übrig. Gar nichts mehr.' Und dieses Nichts würde wahrscheinlich jeden Moment von der Polizei verhaftet werden. Dabei hatte sie nichts getan. Gar nichts. Doch wie sollte sie das beweisen?
Sie versuchte, den Blick von dem Plakat loszureißen, das gleich am Hintereingang der Schule hing. Mindestens das zwanzigste war es auf dem kurzen Weg hierher gewesen. Sie versuchte, die Schrift nicht zu lesen, die unter dem Foto stand. Ihr Blick brannte sich in ihren eigenen Augen fest, diesen großen, dunklen Augen, von denen Yannik gesagt hatte, wenn sie sie nicht schließe, würde er darin ertrinken, rettungslos.
Als sie das erste Plakat mit ihrem Foto darauf am Ende ihrer Straße gesehen hatte, hatte sie so abrupt gebremst, dass sie beinahe vom Fahrrad gestürzt wäre. „Kripo bittet um Mithilfe“ stand in großen, roten Buchstaben ganz oben. Und darunter war ihr Bild. Düster sah sie darauf aus, die Haut wirkte noch dunkler und ihr Blick hatte etwas finster-verbissenes. Nur das weiß ihrer Augäpfel strahlte hervor. Flora schauderte. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Woher kam das Foto? Seit wann hing hier dieses Fahndungsplakat? Und warum hatten sie sie nicht einfach zu Hause verhaftet?
'Ich muss zu Carina', dachte sie, 'sie muss es mir erklären. Sie muss mir alles erklären. Sie allein kann das.' Flora wusste selbst nicht so genau, ob sie ihren Gedanken trauen konnte, vor allem nach gestern Abend, aber sie trat in die Pedale, als könne dies ihr Leben retten. Sie starrte so gut es ging hinunter auf die Straße und erkannte doch schon von weitem jeden Baum, jede Straßenlaterne, jeden Ampelpfosten an dem ihr Steckbrief hing als sei sie ein 'imundície ladrão', ein dreckiger Straßenräuber.
Hoffentlich war Carina heute in der Schule, betete Flora, überfuhr drei rote Ampeln und kam keuchend am Fahrradabstellplatz hinter dem altehrwürdigen Christian-Ernst-Gymnasium zum Stehen. Tief atmete sie durch, als sie Carinas pinkfarbenes und mit weißen Margeriten angemaltes Oma-Fahrrad erkannte, und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.
Doch dann bemerkte sie, dass auch auf einigen Gepäckträgern dieses widerwärtige weiße Plakat klemmte. „... steht im dringenden Tatverdacht …“ lärmten ihr die Worte entgegen. „Getötet“. „Getötet“. „Getötet“.
Mit einem Mal, ohne jede Vorankündigung, spürte Flora, wie sich ihr Magen hob. Sie konnte gerade noch in Richtung des Gebüschs hinter den Fahrrädern springen und dann würgte sie ihr karges Frühstück ins Grün. Ein Schleimfaden rann über ihr Kinn, den Hals hinunter, angewidert wischte sie ihn fort, spuckte noch einmal aus und ging zitternd zum Hintereingang der Schule. Wenigstens war hier der beißende Geruch der Brauerei gegenüber nicht mehr ganz so intensiv zu riechen.
Erst jetzt fiel ihr auf, wie ausgestorben alles wirkte. Nicht ein einziger Mitschüler stand in der Raucherecke und tat hektisch den letzten Zug aus seiner Zigarette, niemand rannte über den Pausenhof. Der Unterricht musste längst begonnen haben. Flora bekam eine Gänsehaut. Hatte sie einen Black out gehabt? Waren wieder Minuten verstrichen, vielleicht sogar Stunden, von denen sie nicht wusste, was in dieser Zeit geschehen war? So wie vor ein paar Wochen …
Diesmal würde sie es nicht überleben.
„Flora“, hörte sie da eine dunkle Männerstimme, die sie nur allzugut kannte. „Die Polizei sucht dich. Sie wollen, dass du ein paar Fragen beantwortest.“