Leseprobe Engelmord:
Am Anfang habe ich noch ihr Rufen gehört und Ares' Bellen. Hier im Wald ist es still bis auf das Plätschern des Regens in den Blättern. Es ist dunkel. Sehr dunkel. Ich muss Heiko finden. Ich muss ihn retten. Dieses Mal muss ich ihn retten. Ich renne gegen die aufziehenden Bilder an. Sie sollen bleiben, wo sie sind. Sicher verwahrt. Meine Sandalen habe ich nach wenigen Metern eingebüßt. Auf dem feuchten Boden bin ich damit gerutscht und habe sie von mir geworfen. Barfuß nachts durch den Wald. Es gibt noch immer Steigerungen. Und überhaupt! Was tue ich, wenn ich ihn finde? Vor allem muss ich ihn vor Gabriel und Samuel finden. Hoffentlich beschützt er meinen Bruder vor Gabriel, vor der Härte seiner Bestrafungen.
„Heiko!“, schreie ich und beiße mir fast auf die Zunge. „Jonathan!“, setze ich schnell hinterher.
Blätter und Äste peitschen mir ins Gesicht. Brennnesseln peinigen meine Waden. Meine Füße sind sicher aufgerissen und blutig. Jeder Schritt tut weh. Ich bin pitschnass. „Jonathan!“ Ich muss voran, voran. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Mitten im Wald. Kurz lehne ich mich an einen Baum, seine glatte Rinde im Rücken verleiht mir neue Kraft. Ich stoße mich mit den Händen ab, sprinte weiter. Sehe im letzten Augenblick Baumstämme, die quer liegen, springe über Senken im Boden hinweg. Die Erde wird immer feuchter und matschiger. Meine Füße sind eiskalt, überzogen von Dreck, versinken bei jedem zweiten Schritt.
Etwas Helles zeichnet sich ab mitten im Wald. Ich drossle mein Tempo. Da ist der Naturaltar, ich erkenne die hellen, großen Steine. Dahinter der Zaun. Sind die Männer überhaupt innerhalb des Geländes?
Einen Moment mich dort hinsetzen, mich ausruhen, überlegen, wie und wohin es weitergehen soll. Ich kauere mich auf den größten Stein. Die Kerzenstummel sind beinahe im Matsch versunken. Von den Blütenköpfen ist nichts mehr übrig als zäher Schleim. Nasses Moos spüre ich unter den Füßen, angenehm weich, aber eiskalt. Ich versuche, gleichmäßig zu atmen. Wo können sie sein? Was hat Heiko vor? Und vor allem: Wieso ist er plötzlich so ausgerastet?
Ich starre auf den matschigen Boden. Liegen dort noch immer die Knochenreste, die Fellreste? Sicher hat Ares das Tier auf dem Gewissen, dessen Überbleibsel ich sah, als ich zum ersten Mal hier vorbeikam. Kurz bevor Samuel beinahe von dem Lieferwagen überfahren wurde. Die Spuren des Lagerfeuers sind beseitigt. Stattdessen verläuft ein niedriger Erdwall quer über den Platz. Auch er ist vom Wasser aufgequollen. Am unteren Ende bricht er bald auseinander. An der einen und anderen Stelle ist die Erde schon weggeschwemmt. Ein Stück gefaltetes Papier inmitten des Walls trotzt dem Regen. Das sieht aus wie … Ich bücke mich, hebe es auf. Ein Kranich. Hat Heiko den hier hinterlassen? Wieso? Zwischen meinen Fingern zerfasert das nasse Papier, der Kranich macht sich davon. Ich starre in den Morast zu meinen Füßen, die Gedanken rattern wie eine Filmspule, die ins Leere läuft. Etwas Helles ragt aus der aufgeweichten Erde hervor. Ares' Beute? Ich gehe näher. Fünf kleine, helle Stifte. Wie Knöchelchen. Mit Nägeln daran. Meine Beine geben nach. Ich kauere im Matsch. Jetzt sehe ich sie unverkennbar direkt vor mir – die blassen Zehen eines Menschen.