Leseprobe "Frostherz"
Freitag, 30.04.
Ich werde ihn töten. Nachdem er mich getötet hat, immer und immer wieder, werde nun ich ihn töten. Ich werde die letzte, mir verbliebene Kraft bündeln und dann zuschlagen. Ich werde mich aus der Herrschaft von Erniedrigung, Terror, Angst und Schmerz befreien. Dies ist mein Gebet. Ich spreche es lautlos wieder und immer wieder. Ich selbst werde mich erhören. Ich werde Vorkehrungen treffen. Mich bewaffnen. Ein kriegerischer Engel, denn tot bin ich schon lange. Aber die Lebenden, die Überlebenden, die muss ich schützen.
Ich kann ihm im Hausflur auflaufern, wenn er von seinen Streifzügen zurück kehrt, befriedigt und satt. Mich von hinten anschleichen, ihm lautlos die Schlinge überwerfen und einfach ziehen. Bis er zappelt. Bis er zu Boden geht. Bis kein Sauerstoffpartikel mehr seine Blutbahnen durchzieht. Seine letzte Wahrnehmung soll der Blick in meine Augen sein. Die ihn verdammen. Ich werde mich einen Moment lang als Sieger fühlen. Ob mein Leben danach einen Sinn haben wird, weiß ich nicht. Es ist egal. Denn schon jetzt hat es keinen Sinn außer dem Leiden und das ist sinnlos. Aber vielleicht wird dieser Akt mein Befreiungsschlag. Vielleicht gehe ich als neugeborener Mensch daraus hervor. Oder ich gehe endgültig unter. Aber wenigstens nehme ich ihn dann mit. Ihn, meinen Peiniger, dem ich so lange ausgeliefert war. Von dem ich dachte, dass ich ihm entronnen bin. Ich werde ihm nie entrinnen. Und ich will nicht, dass er aufs Neue Macht über mich erlangt, dieser finstere Dämon, dieser Teufel, der mein Leben zur Hölle und mich zu ihrer Ausgeburt gemacht hat.